Auf den Zahn gefühlt
Die Verdauung des Pferdes hängt unmittelbar mit dem Kauvorgang zusammen, denn anders als Menschen oder Hunde produziert das Pferd nur Speichel während des aktiven Kauens. Aus diesem Grund gehen Zahnprobleme bei Pferden weit über die Maulhöhle hinaus. Dr. Carsten Vogt ist Tierarzt für Zahnheilkunde bei Pferden und erklärt, was es für die Tiere bedeutet, wenn Zähne gezogen werden müssen.
"Wie beim Menschen die Hände, verraten beim Pferd die Zähne das ungefähre Alter."
Das Gebiss der Pferde
Gesunde erwachsene Pferde haben zwischen 36 und 44 Zähnen im Maul. Zwölf Schneidezähne, zwölf vordere Backenzähne, zwölf hintere Backenzähne. Eventuell plus null bis vier Hengstzähne und/oder null bis vier Wolfszähne.
Ein verbreiteter Irrglaube besagt, dass die Zähne des Pferdes ein Leben lang wachsen. Diese Aussage ist falsch. Die Zähne haben eine Länge von bis zu zwölf Zentimetern, der vollständig ausgebildete Zahn befindet sich im Kiefer und schiebt sich nach und nach aus dem Zahnfach. Die Maximallänge ist im Alter von sechs bis acht Jahren erreicht. „Der Zahn ist dann wie ein Stück Kreide. Von da an reibt sich der Zahn durch das kontinuierliche Kauen und Mahlen weiter ab und wird immer kürzer“, erklärt Dr. Carsten Vogt. Der Abrieb beträgt pro Jahr etwa zwei bis vier Millimeter. Der Zahn wächst also nicht wirklich, sondern schiebt sich immer weiter heraus, wodurch die Wurzel kürzer wird.
Zahnverlust
Bleibende Zähne zu verlieren, ist wie beim Menschen auch nicht schön, denn diese kommen nicht wieder. Der Zahnverlust kann unterschiedliche Auswirkungen haben. „Bei alten Pferden sprechen wir hier oftmals über Stumpen mit einer kurzen Wurzel, teilweise auch Zähne, die sich geteilt haben, oder, dass nur noch Wurzelreste im Zahnfach vorhanden sind“, berichtet Dr. Vogt, der sich seit mehr als 20 Jahren fast ausschließlich mit der Zahnheilkunde bei Pferden befasst. Bevor ein Zahn gezogen werden muss, wackelt dieser in der Regel, dies führt oft zu Problemen beim Fressen. „Bevor der Tierarzt einen Zahn entfernt, sollte jedoch gründlich abgewogen werden. Auf der einen Seite steht der Zahn, der das Pferd beim Kauen behindert, auf der anderen Seite kann das Entstehen einer Lücke dazu führen, dass die anderen Zähne in die Lücke kippen oder ohne den Halt ebenfalls beginnen zu wackeln“, beschreibt der Fachmann. Aber es kann auch passieren, dass die Nachbarzähne zwar in die entstandene Lücke schieben, dies nennt sich Dental-Drift, diese aber so schließen, dass die Lücke später nicht mehr oder kaum sichtbar ist. „Es ist völlig individuell, bei einigen Pferden sieht man schon nach einigen Monaten keine Lücke mehr und bei anderen bleibt sie über Jahre sichtbar. Das kann aber nicht vorhergesehen werden, beide Varianten sehe ich bei jungen und alten Pferden“, so Vogt. Die Devise „Zahnerhalt vor Zahnextraktion“ aus der Humanmedizin lässt sich laut des Fachmannes nicht vollständig auf den Pferdebereich übertragen. „Das Problem des fehlenden Zahns ist nicht so groß, wie immer gemutmaßt wird. Wenn die Zähne regelmäßig kontrolliert werden und die Gegenspieler der Zähne beobachtet werden, dann kann man das ganz gut im Griff behalten“, ist sich Dr. Vogt sicher. Wichtig ist laut dem Experten ein Tierarzt, dem der Besitzer vertraut und der regelmäßig je nach Befund die Entwicklung der Zähne überwacht. „Je jünger die Pferde, desto häufiger sollten die Zähne kontrolliert werden. Auch nach einer Extraktion ist es wichtig, den Heilungsprozess und die Veränderungen im Maul in kurzen Abständen zu überwachen“, empfiehlt der Fachmann. So sollten junge Pferde halbjährig vorstellig werden und ältere Tiere ab etwa dem 18. Lebensjahr jährlich.
Das Extrahieren der Zähne verläuft bei älteren Pferden aufgrund der kurzen Wurzel eher unspektakulär. „Das ist oftmals ein Eingriff von fünf Minuten mit der Zange. Während die Zähne bei jungen Pferden noch tief im Kiefer sitzen und mit diesem fest verbunden sind“, so Vogt. Bei älteren Tieren sind meist wacklige Zähne aufgrund der kurzen Wurzel der Grund für die Extraktion. Bei jüngeren könnten Infektionen oder auch Frakturen des Zahnes die Entfernung nötig machen. „Ganz wichtig ist hierbei zu wissen, dass nicht jeder gebrochene Zahn auch entfernt werden muss“, betont der Tierarzt. Ein weiterer Grund, der zur Entfernung eines Zahnes führen kann, sind parodontale Erkrankungen. Hierbei schiebt sich Futter zwischen zwei Zähne und wird im Laufe der Zeit und durch den Druck des Kauens immer weiter reingeschoben, über Monate und Jahre kommt es so zu massiven Schäden am Zahn. Ein weiterer Grund sind Stellungsanomalien, bei denen beispielsweise die komplette Zahnreihe gekippt ist, wodurch es ebenfalls zu parodontalen Erkrankungen kommt. Des Weiteren kann es erforderlich sein, entartete und missgebildete Zähne zu ziehen. Diese Missbildungen können durch falsche Anlage, Tumore oder ein äußeres Trauma entstehen.
Zahnverlust vorbeugen
„Ich höre von Besitzern häufig, ‚Gucken Sie doch erst mal rein, ob es überhaupt nötig ist‘, aber das funktioniert bei Pferden nicht so einfach. Ich kann mir nur ein Bild machen, wenn ich mir alle Zähne bis zum letzten Backenzahn angucke und auch diese auch anfasse. Das ist nur mit Sedierung und Maulgatter möglich“, verdeutlicht Dr. Vogt. „Lockere Zähne können nicht unbedingt gesehen werden, das muss man spüren“. Darum ist es wichtig, in regelmäßigen Abständen einen geübten Tierarzt oder Pferdezahnarzt das Gebiss kontrollieren zu lassen. Erscheinungen wie Stellungsanomalien entwickeln sich über eine längere Zeit, wenn diese rechtzeitig entdeckt werden, kann durch eine gezielte Bearbeitung das Problem gelindert werden, wodurch der Zahn länger erhalten bleiben kann. Ein Meißelzahn, der viel stärker ausgeprägt ist und dadurch den gegenspielenden Zahn schädigt, kann durch gezieltes Abschleifen erhalten bleiben. „Man sollte nicht erst jemanden holen, wenn das Pferd Symptome zeigt. Pferde können ihren Schmerz sehr lange verstecken und wenn der Besitzer eine Veränderung feststellt, ist es oftmals schon zu spät für einfach Maßnahmen“, berichtet Dr. Vogt aus Erfahrung.
Auswirkungen durch Zahnverlust
„Der erste und wichtigste Schritt, nachdem ein Zahn entfernt wurde, ist die direkte Versorgung nach der Extraktion. Dies wird leider maßlos unterschätzt“, weiß Dr. Vogt. Die Heilung in den ersten drei Wochen ist entscheidend, darum sollte der behandelnde Arzt den Verlauf engmaschig überwachen. „Wenn die Heilung nicht gut verläuft, kommt es oft zu einseitigem übelriechendem Ausfluss. Und wenn ich Besitzer sehe, die nach neun Monaten immer noch Spülen müssen, dann kann ich mir sicher sein, dass da in den ersten Wochen der Heilung was schiefgelaufen ist. Häufig bildet sich eine Fistel und dann kann auch in drei Jahren noch gespült werden, das wird nichts mehr“, ist sich Dr. Vogt sicher. Nachdem das Zahnfach abgeheilt ist, muss der behandelnde Tierarzt festlegen, wie oft eine weitere Behandlung der Zähne nötig ist. Hier ist es wichtig, zu beobachten, wie und ob sich der Zahnverlust auf die umliegenden Zähne auswirkt. „Wenn ich einen Zahn entferne und der Gegenspieler dadurch weiter aus dem Kiefer kommt, wird die Kaufunktion gestört. Der Gegenspieler muss also immer wieder runtergefeilt werden“, erklärt der Pferdezahnarzt.
"Die ersten drei Wochen der Heilung sind entscheidend."
Anpassung der Fütterung
Ein einzelner gezogener oder verlorener Zahn behindert das Fressen und die Futterverwertung der Pferde kaum. Relevanter wird es, wenn mehrere Zähne fehlen und die Kaufläche verloren geht. „Das A und O für ältere Pferde ist Raufutter, sie brauchen keine Kohlenhydrate wie Rübenschnitzel, Mash und Co. Leider wissen wir nicht, mit wie vielen Zähnen Pferde noch ausreichend zerkleinern können. Ich habe Patientenpferde, die 36 Jahre alt sind und im Oberkiefer keine Zähne mehr haben. Sie werden mit Heucobs gefüttert und gehen im Sommer auf die Wiese und sehen super aus. Man sollte neben dem Gebiss auch immer den Gesamtzustand des Pferdes betrachten, manchmal sind wackelnde Zähne weniger störend als die Extraktion“.
Wichtig bei Pferden, die unter massiven Zahnverlust leiden, ist der Erhalt des Energielevels. Dies kann durch vorzerkleinerte Raufaser wie Heucobs oder Maiscobs erreicht werden. „Maiscobs sind vielleicht sogar noch besser geeignet. Hier wird nicht der Mais als Frucht verarbeitet, sondern die gesamte Pflanze geschreddert. Damit habe ich in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht, auch bei Pferden, die nicht so gerne Heucobs fressen“. Außerdem sollte in der Fütterung auf Öl gesetzt werden, denn die Energie aus dem Öl kann auch ohne Kauen verarbeitet werden. „Dabei sprechen wir nicht über einen Ölspritzer, sondern über 50 Milliliter pro 100 Kilogramm Lebendgewicht des Pferdes. Da reicht auch einfaches Sonnenblumenöl“, empfiehlt Dr. Vogt. Auch Pferde ohne Zähne haben immer noch das Kaubedürfnis, darum sollte auch ihnen etwas Heu zum Knabbern zur Verfügung stehen.
Schreckgespenst EOTRH
EOTRH steht für Equine Odontoclastic Tooth Resorption and Hypercementosis und bezeichnet eine sehr schmerzhafte Entzündung des Zahnapparates und Zahnfleisches der Schneide- und Hakenzähne. Bei schwierigen Krankheitsverläufen kann es zur vollständigen Auflösung der Zahnhartsubstanz und einer starken Rückbildung des Zahnfleisches kommen. Besonders häufig betroffen sind ältere Pferde. „Wir wissen bis heute nicht, wo es herkommt oder was der Trigger ist. Wir haben Pferde mit Ansätzen davon oder Pferde mit mittelgradiger Erkrankung und diese beobachten wir dann teilweise jahrelang, ohne eine Veränderung festzustellen. Und es gibt erkrankte Pferde, bei denen der Verlauf innerhalb eines halben Jahres dramatisch ist. Wir wissen einfach nicht, was der Auslöser ist“, erklärt Dr. Vogt. Zwar werde die Krankheit erforscht, jedoch bisher ohne befriedigendes Ergebnis. „Und dann gibt es irgendwelche Scheinerklärungen, die munter bei Facebook gepostet werden und dann bei ausreichender Resonanz als wissenschaftlich bestätigt angesehen werden“, äußert sich der Zahn-Experte. Wenn die Diagnose gestellt ist, sollte sich eine zweite Meinung eingeholt werden. „Meiner Meinung nach wird im Moment einfach viel zu viel vorschnell gezogen. Aber wenn ich bei meinem Pferd eindeutige Schmerzen erkenne, dann darf ich auch nicht zu lange zögern. Da ist das Motto ‚Besser keinen Zahn als, einen, der dauernd wehtut‘. Oftmals ist die Erleichterung der Tiere sofort zu sehen und die alte Lebensenergie kehrt zurück“, berichtet Dr. Vogt.