Sexueller Missbrauch im Reitsport – Ellen erzählt ihre Geschichte

Bei dem Gespräch mit Ellen und Melanie musste Redakteurin Maureen einige Male schlucken und tief durchatmen. Ellens Mut ihre Geschichte so offen zu erzählen ist beeindruckend.

Achtung: In folgendem Artikel geht es um das Thema Sexueller Missbrauch in der Jugend / im Reitsport. Sollte es Ihnen mit diesem Thema nicht gut gehen,lesen Sie den Artikel besser nicht oder nicht alleine.

 

Drei Jahre lang war Ellen Wolfram bei Melanie Smaka in Therapie. Schwerpunkt: Traumatherapie. Ziel: Sich die Pferde zurück ins Leben holen. Auslöser: Sexueller Missbrauch in der Jugend. Heute kann Wolfram nicht nur als starke Persönlichkeit über ihre Erlebnisse sprechen, sie möchte eben diese auch mit der Welt teilen. Sie möchte einerseits warnen, andererseits aber auch Betroffenen Mut machen, sich Hilfe zu holen, über Vorfälle zu sprechen.

 

„Mir ist im Kindes- und Jugendalter sexueller Missbrauch passiert – und zwar gleich doppelt“, beginnt Wolfram ihre Geschichte. „Einmal im Alter von neun Jahren, da fing es an, dass mein Vater mich missbraucht hat. Das ging vier Jahre“, fährt sie fort ohne lange darum herum zu reden. „Bald darauf habe ich mit den Reitstunden angefangen und da kam es dann recht schnell zum zweiten sexuellen Missbrauch durch den Reitlehrer.“

Aber von vorne. Als Einzelkind stand Ellen Wolfram im Fokus ihrer Eltern. Nach außen verkörperten die drei eine normale Familie von nebenan. „Ich habe mit niemandem darüber gesprochen und so wirkte unser Verhältnis ganz normal. Mein Vater impfte mir ein, dass mir sowieso niemand glauben würde. Das saß sehr tief.“ So stellte sich die Frage: Wusste Ellens Mutter von dem Missbrauch im eigenen Haus? „Das weiß ich bis heute nicht. Im Laufe der Therapiejahre habe ich für mich beschlossen, das auch nicht mit meiner Mutter zu thematisieren. Meine drei Kinder haben ein gutes Verhältnis zu ihrer Großmutter“, erklärt Wolfram. „Das will ich nicht zerstören.“ Der Kontakt von ihr und ihrer Mutter beruht auf dem Minimum. Und das Verhältnis zu ihrem Vater? „Nach dem zweiten Missbrauch durch meinen Reitlehrer ist das Verhältnis sehr viel schlechter geworden, auch nach außen erkennbar. Er gab mir die alleinige Schuld an der ganzen Sache und wollte mich als seine Tochter verstoßen.“ Ellens Mutter verhinderte dies, im Hinblick darauf, was die Nachbarn von der Familie wohl denken könnten. „Bis zum Ende seines Lebens hat er nicht mehr mit mir gesprochen.“ 1989, als Ellen Wolfram 19 war, starb ihr Vater.

 

Ein kurzer Moment Hoffnung

 

Als der Missbrauch durch den eigenen Vater ein Ende nahm, lernte Wolfram ihre erste große Liebe kennen. „Das war eine richtige Teenagerliebe“, beschreibt Ellen mit einem Schmunzeln im Gesicht dieser Erfahrung. „Das erste Mal verliebt und Schmetterlinge im Bauch – die Nähe zu ihm habe gesucht, ebenso seine Zuneigung und Anerkennung.“ Von ihrem Vater bekam sie eben dies nicht. „Das war rein auf sexueller Ebene.“ Was war der erste Freund für ein Mensch? „Er war ein Beschützer-Typ“, bringt sie es ganz klar auf den Punkt. Einer, der sie gut behandelte. Ihre Eltern jedoch standen der jungen Beziehung nicht sehr positiv gegenüber. „Die wussten von der Beziehung, waren aber strikt dagegen, sodass wir uns mehr oder weniger geheim getroffen haben. Er war nicht gut genug.“ Ihre Überzeugung beruhte auf der Tatsache, dass Wolframs damaliger Freund in einem „Heim für Schwererziehbare“ im selben Dorf wohnte. „Er hatte schon einiges auf dem Kerbholz und damit war er nicht gut genug für die Lehrerinnen-Tochter.“ Nach noch nicht einmal einem Jahr endete ihre Zeit auf Wolke Sieben. In einer Nacht- und Nebel-Aktion wurde ihre erste große Liebe in ein anderes Heim verlegt.

Bei ihrem Besuch in Melanie Smakas Therapiezentrum lernte unsere Redakteurin Maureen Schrader Ellen Wolfram kennen. In der frühsommerlichen Sonne hörte sie das erste Mal - mitten in der Pferdeherde sitzend - Ellens Geschichte.

Vom Traum zum Albtraum

 

Ihr einziger Trost damals: „Dann kam die Nachricht, dass ich endlich reiten durfte. Das habe ich mir schon ganz lange gewünscht, aber es ging nicht, weil der Arzt immer wieder sein Veto einlegte. Ich hatte etwas mit der Hüfte“, erzählt Wolfram. „Als er dann sagte: ‚Okay, du darfst aufs Pferd.‘ habe ich dann in der Reitschule angefangen.“ Nach ein paar Monaten schon begannen die sexuellen Übergriffe des Reitlehrers. „Erst unterschwellig, mit zufälligen Berührungen und zufälligen Begegnungen, und dann wurde er immer aufdringlicher. Ich hatte nie gelernt, mich gegen solche Grenzüberschreitungen zu wehren und kannte es ja so gesehen auch schon von meinem Vater.“ Für das junge Mädchen waren bis zu diesem Zeitpunkt die Vorkommnisse mit ihrem Vater Normalität. Auch bei ihrem Reitlehrer ging sie davon aus, dass es so sein muss. „Ich bekam ja auch etwas dafür. Ich durfte zum Beispiel immer mein Lieblingspferd in den Reitstunden reiten.“ Wohl fühlte sie sich in beiden Fällen keineswegs. „Ich bin oft mit Bauchschmerzen zum Stall gefahren.“ Hilfe holte sie sich damals keine. Sätze wie: „Dir glaubt doch sowieso keiner“, spulten sich immer und immer wieder in ihrem Kopf ab.

Schnell spitzte sich die Situation zu. Von leichten Berührungen beim Vorbeigehen, über das Armauflegen im Reiterstübchen, wenn man nebeneinandersaß, bis hin zu sexuellen Übergriffen, wenn sie alleine mit ihrem Reitlehrer war. „Ganz schlimm habe ich die Sattelkammer in Erinnerung. Der Geruch, die Optik als auch das Geräusch vom Leder hat mich lange getriggert.“ Dass ein Reitlehrer es schaffte, eine seine Reitschülerinnen so zu bedrängen und sogar zu missbrauchen und das auch noch im Reitschulstall, ist kaum vorstellbar. Wie kann das passieren? Wieso hat das keiner mitbekommen? Ellen Wolfram macht deutlich: „Er nutzte gezielt Momente, in denen andere bereits damit beschäftigt waren, sich zu verabschieden. In dieser Zeit drängte er mich abseits ins Strohlager.“ Aber nicht nur die wöchentlichen Reitstunden nutzte er. „Es gab Zeiten, da war ich länger vor Ort, etwa zu einem Lehrgang. Ich übernachtete in der Nähe zusammen mit anderen Reitschülern. Er holte mich nachts ab. In den Herbstferien gab er mir sogar Geld, damit ich mit dem Taxi zu ihm fahren konnte.“ Niemand im Stall ahnte, was dort vor sich ging. Keiner schritt ein. „Ich denke, das lag vor allem an seiner Stellung. Er war ein kleiner Herrscher des Stalls kann man sagen.“ Den Reitunterricht freiwillig abzubrechen, war für Wolfram in dieser Zeit keine Option. Zu wichtig war ihr der Kontakt zu den Pferden. Um das Erlebte zu verarbeiten, führte sie in regelmäßigen Abständen ein Tagebuch, in welches das junge Mädchen auch den Missbrauch durch den Reitlehrer festhielt. Nach knapp einem Jahr fand ihr Vater das Buch und erfuhr so von den Vorkommnissen. „Dann kam der große Knall. Ich war von jetzt auf gleich in der Hölle. Er schlug mir das Buch um die Ohren und lies die bösartigsten Schimpfwörter fallen. Er gab mir die Schuld, ich war die Hure, die Schlampe.“ Die Reaktion eines Vaters, der seine Tochter jahrelang missbrauchte und dann von weiteren Missbrauchsfällen im Reitstall erfuhr. „Er wollte mich sogar rausschmeißen, ich sollte ins Heim. Aber wie bereits erwähnt, meine Mutter redete dagegen, im Hinblick darauf, was die Nachbarn denken würden.“ Die folgenden Jahre lebte Wolframs Vater nach dem Motto: Er habe keine Tochter mehr. Ihre Mutter sorgte dafür, dass sie oft außer Haus war. „Ich war in den Ferien immer auf Sprachreisen, war außerdem ein Jahr in Amerika als Austauschschülerin, also ich war viel unterwegs und das fand ich auch gar nicht so schlecht.“ Das Thema Reiten, Pferde oder gar der Missbrauch wurde totgeschwiegen. Auch über den Tod von Ellens Vater hinaus.

Um zu erfahren, wie es mit Ellen weiterging, was zum an die Oberfläche kommen ihres Traumas geführt hat, wie sie zu Melanie Smaka kam und wie es hier heute geht, klicken Sie hier und sehen Sie unseren Talk auf unserem equijoy-Kanal bei YouTube.

 

Zum Thema

Ellens Therapeutin heißt Melanie Smaka und ist Heilpraktikerin und Reittherapeutin mit der Spezialisierung auf psychotherapeutische Begleitung mit dem Pferd, insbesondere Traumatherapie.

Melanie Smaka betont außerhalb der Kamera: „Die Eltern spielen in solchen Fällen eine wahnsinnig große Rolle. Sie sollten auf die Zeichen ihrer Kinder achten und häufiger Aussagen hinterfragen. Wenn zum Beispiel ein Kind zuhause erzählt: ‚Unser Reitlehrer riecht immer so unangenehm aus dem Mund‘, müssen sich Mutter und Vater darüber Gedanken machen, wieso dieser Mensch dem eigenen Kind so nah kommt, dass eben dieses Kind eine solche Aussage trifft. Und dem sollte immer auf den Grund gegangen werden."

 

 

 

Sexuelle Gewalt im Reitsport – Die FN als Ansprechpartner

Über Zoom unterhielten sich Maureen und Maria Schierhölter-Otte über sexuelle Gewalt im Reitsport und über die Maßnahmen sowie die Hilfen, die die FN Betroffenen bietet.

In einem Zoom-Gespräch mit Maria Schierhölter-Otte ging unsere Redakteurin Maureen Schrader auf die FN als Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt im Reitsport ein und erkundigte sich über die Präventivmaßnahmen als auch über den Verlauf, wenn ein Betroffener den Schritt wagt und einen Fall meldet.

 

Erste Anlaufstelle für Betroffene sexueller Gewalt oder sexuellen Missbrauchs im Reitsport in Vereinen und in Betrieben ist das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) kooperiert seit dem 01. Mai 2020 mit dem Verein N.I.N.A. („Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Jungen und Mädchen“), der die fachliche Leitung dieses Hilfe-Telefons innehat (siehe Infokasten). FN-Ansprechpartnerin in diesem Bereich ist Maria Schierhölter-Otte. Seit über 30 Jahren arbeitet sie bei der FN. Ihr Hauptjob ist die Leitung der gesamten Jugendarbeit, zusätzlich ist sie seit zehn Jahren Ansprechpartnerin im Bereich Prävention sexualisierter Gewalt im Pferdesport.

 

Eine hohe Dunkelziffer

 

„Wie groß genau das Thema sexualisierte Gewalt im Reitsport wirklich ist, kann man nur schwer sagen. Ich glaube, wir haben eine hohe Dunkelziffer. Was aber ganz gewiss Fakt ist – und das machen sich auch Täter zunutze – die hohe Emotionalität mit dem Thema Pferd“, steigt Schierhölter-Otte in das Thema ein. „Das Pferd macht insbesondere junge Mädchen, die gerne reiten möchten, erpressbar und abhängig. Plötzlich bekomme ich ein bestimmtes Pflegepferd oder Extrareitstunden, ich darf aufs Turnier – mir werden ganz viele Vorteile gewährt, die andere Reitschüler vielleicht nicht haben.“ Und genau hier befindet sich auch der gravierende Unterschied zu anderen Sportarten, der den Reitsport besonders anfällig für eben solche Übergriffe macht. „So eine hohe Emotionalität hat ein Tennisschläger oder ein Fußball in der Regel nicht“, führt Schierhölter-Otte weiter aus. „Es ist ihr großer Traum, für den sie alles geben, und hinterfragen dann auch gar nicht, ob das normal ist, wenn ein Täter sie anfasst.“ Den Schritt zu gehen und darüber zu reden beziehungsweise sich Hilfe zu holen, trauen sich die meisten Betroffenen nicht. „Erstens nicht zuhause, weil sie Angst haben, dass ihnen dann der Gang zum Stall verwehrt wird, und im Stall auch nicht, weil sie Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Aber nicht nur Mädchen und Frauen werden Opfer von sexualisierter Gewalt im Reitsport. Auch Jungs und Männer sind betroffen und können sich über die Kontaktdaten der FN Hilfe holen. „Jeder Anrufer wird in Warendorf sehr ernst genommen. Das Schlimmste für Betroffene ist, dass ihnen keiner glaubt.“

 

Ein Anruf genügt

 

„In erster Linie geht es bei uns darum, Betroffenen Glauben zu schenken und zuzuhören. Ich erhalte durchaus auch anonyme Anrufe und versuche, einfach zuzuhören. Wir sind keine Ermittlerstelle, wir können die Betroffenen aber beraten, was die nächsten Schritte sind.“ Vorarbeit für die späteren Ermittlungen können dennoch bereits bei der FN geleistet werden. „Wir können recherchieren, ob die betreffende Person eine Trainerlizenz hat, ob sie Berufsreiter ist, ob sie Persönliches Mitglied der FN ist, ob sie Inhaber eines gekennzeichneten Pferdebetriebs ist“, zählt die Ansprechpartnerin auf. „Aber erst, wenn es ein Urteil gibt, wenn eine Anzeige erstattet wurde, dann können wir tätig werden. Bis dahin ist in Deutschland erstmal jeder Mensch unschuldig, so ist das Rechtssystem.“ In der Zwischenzeit empfiehlt die FN die Kontaktaufnahme mit dem Hilfetelefon N.I.N.A. „N.I.N.A hat geschulte Anwälte, die auch eine psychosoziale Prozessbegleitung machen. Es dauert manchmal ein bis zwei Jahre, bis so ein Prozess in Gang kommt, bis ein Urteil da ist.“ Ist das Urteil gefallen, kann die FN dann über die Vermittlung und Beratung tätig werden und sich mit dem Gericht oder den Anwälten in Verbindung setzen, um den Täter für eine gewisse Zeit aus dem Pferdesport zu verbannen. Ihm die Jahresturnierlizenz zu entziehen ist gesetzlich leider noch nicht möglich. Hat der Täter seine Strafe hinter sich gebracht, kann er wieder aktiv in den Reitsport einsteigen. In Zukunft soll eben dieses Thema aber noch weiterbearbeitet werden. Aber wie häufig ist sexuelle Gewalt im Reitsport? „Also ein bis zwei Anrufe im Monat bekomme ich schon. Manchmal ist es auch mehr, manchmal ist es weniger. Manche Betroffene rufen auch mehrmals an.“ Und das sind nur die, die den Schritt wagen und den Kontakt zur FN aufnehmen.

 

Präventivmaßnahmen

 

Trotz aller Präventivmaßnahmen der FN mahnt Schierhölter-Otte auch nochmal alle Eltern, besonders diese, die selber nicht aus dem Reitsport kommen. „Es ist ganz wichtig, dass Eltern auch mal ein paar Sachen hinterfragen.“ Und die Ansprechpartnerin der FN wird noch genauer: „Ist der Ausbilder, der da in der Mitte steht, ein geprüfter Trainer? Hat er eine Trainerlizenz? Ist er angestellt im Verein? Hat er einen Ehrenkodex unterschrieben? Hat er ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis? Das KANN und SOLLTE ich als Eltern hinterfragen!“ Außerdem hebt sie hervor: „Wenn mir (als Elternteil) irgendetwas auffällt, dann sollte ich den Mund aufmachen.“ Und auch der Vorstand des Vereins sollte aufmerksam werden, wenn ein neuer Trainer bereits in vielen Betrieben war und immer wieder gewechselt ist. 

Abschließend fasst Schierhölter-Otte zusammen: „Es will niemand den Kindern das Reiten oder den Pferdesport verbieten, aber es gibt überall schwarze Scharfe und da müssen wir ran.“

 

Um das ganze Gespräch unserer Redakteurin Maureen Schrader und Maria Schierhölter-Otte zu sehen, klicken Sie hier und gelangen Sie direkt auf unseren YouTube-Kanal equijoy.

 

 

Beratung und Hilfe

Die Beratungshotline N.I.N.A kann unter der Nummer 0800 2255530 kostenfrei und anonym oder per Mail an die mail(at)nina-info.de erreicht werden.

Näheres auch unter www.nina-info.de oder www.anrufen-hilft.de .

Ansprechpartnerin Maria Schierhölter-Otte kann unter 02581 6362-135 oder per Mail an die mschierhoelter(at)fn-dokr.de erreicht werden.

Weitere Infos zum Schutz vor sexualisierter Gewalt im Reitsport gibt es auf www.pferd-aktuell.de .

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