Vom Traum zum Albtraum
Ihr einziger Trost damals: „Dann kam die Nachricht, dass ich endlich reiten durfte. Das habe ich mir schon ganz lange gewünscht, aber es ging nicht, weil der Arzt immer wieder sein Veto einlegte. Ich hatte etwas mit der Hüfte“, erzählt Wolfram. „Als er dann sagte: ‚Okay, du darfst aufs Pferd.‘ habe ich dann in der Reitschule angefangen.“ Nach ein paar Monaten schon begannen die sexuellen Übergriffe des Reitlehrers. „Erst unterschwellig, mit zufälligen Berührungen und zufälligen Begegnungen, und dann wurde er immer aufdringlicher. Ich hatte nie gelernt, mich gegen solche Grenzüberschreitungen zu wehren und kannte es ja so gesehen auch schon von meinem Vater.“ Für das junge Mädchen waren bis zu diesem Zeitpunkt die Vorkommnisse mit ihrem Vater Normalität. Auch bei ihrem Reitlehrer ging sie davon aus, dass es so sein muss. „Ich bekam ja auch etwas dafür. Ich durfte zum Beispiel immer mein Lieblingspferd in den Reitstunden reiten.“ Wohl fühlte sie sich in beiden Fällen keineswegs. „Ich bin oft mit Bauchschmerzen zum Stall gefahren.“ Hilfe holte sie sich damals keine. Sätze wie: „Dir glaubt doch sowieso keiner“, spulten sich immer und immer wieder in ihrem Kopf ab.
Schnell spitzte sich die Situation zu. Von leichten Berührungen beim Vorbeigehen, über das Armauflegen im Reiterstübchen, wenn man nebeneinandersaß, bis hin zu sexuellen Übergriffen, wenn sie alleine mit ihrem Reitlehrer war. „Ganz schlimm habe ich die Sattelkammer in Erinnerung. Der Geruch, die Optik als auch das Geräusch vom Leder hat mich lange getriggert.“ Dass ein Reitlehrer es schaffte, eine seine Reitschülerinnen so zu bedrängen und sogar zu missbrauchen und das auch noch im Reitschulstall, ist kaum vorstellbar. Wie kann das passieren? Wieso hat das keiner mitbekommen? Ellen Wolfram macht deutlich: „Er nutzte gezielt Momente, in denen andere bereits damit beschäftigt waren, sich zu verabschieden. In dieser Zeit drängte er mich abseits ins Strohlager.“ Aber nicht nur die wöchentlichen Reitstunden nutzte er. „Es gab Zeiten, da war ich länger vor Ort, etwa zu einem Lehrgang. Ich übernachtete in der Nähe zusammen mit anderen Reitschülern. Er holte mich nachts ab. In den Herbstferien gab er mir sogar Geld, damit ich mit dem Taxi zu ihm fahren konnte.“ Niemand im Stall ahnte, was dort vor sich ging. Keiner schritt ein. „Ich denke, das lag vor allem an seiner Stellung. Er war ein kleiner Herrscher des Stalls kann man sagen.“ Den Reitunterricht freiwillig abzubrechen, war für Wolfram in dieser Zeit keine Option. Zu wichtig war ihr der Kontakt zu den Pferden. Um das Erlebte zu verarbeiten, führte sie in regelmäßigen Abständen ein Tagebuch, in welches das junge Mädchen auch den Missbrauch durch den Reitlehrer festhielt. Nach knapp einem Jahr fand ihr Vater das Buch und erfuhr so von den Vorkommnissen. „Dann kam der große Knall. Ich war von jetzt auf gleich in der Hölle. Er schlug mir das Buch um die Ohren und lies die bösartigsten Schimpfwörter fallen. Er gab mir die Schuld, ich war die Hure, die Schlampe.“ Die Reaktion eines Vaters, der seine Tochter jahrelang missbrauchte und dann von weiteren Missbrauchsfällen im Reitstall erfuhr. „Er wollte mich sogar rausschmeißen, ich sollte ins Heim. Aber wie bereits erwähnt, meine Mutter redete dagegen, im Hinblick darauf, was die Nachbarn denken würden.“ Die folgenden Jahre lebte Wolframs Vater nach dem Motto: Er habe keine Tochter mehr. Ihre Mutter sorgte dafür, dass sie oft außer Haus war. „Ich war in den Ferien immer auf Sprachreisen, war außerdem ein Jahr in Amerika als Austauschschülerin, also ich war viel unterwegs und das fand ich auch gar nicht so schlecht.“ Das Thema Reiten, Pferde oder gar der Missbrauch wurde totgeschwiegen. Auch über den Tod von Ellens Vater hinaus.
Um zu erfahren, wie es mit Ellen weiterging, was zum an die Oberfläche kommen ihres Traumas geführt hat, wie sie zu Melanie Smaka kam und wie es hier heute geht, klicken Sie hier und sehen Sie unseren Talk auf unserem equijoy-Kanal bei YouTube.
Zum Thema
Ellens Therapeutin heißt Melanie Smaka und ist Heilpraktikerin und Reittherapeutin mit der Spezialisierung auf psychotherapeutische Begleitung mit dem Pferd, insbesondere Traumatherapie.
Melanie Smaka betont außerhalb der Kamera: „Die Eltern spielen in solchen Fällen eine wahnsinnig große Rolle. Sie sollten auf die Zeichen ihrer Kinder achten und häufiger Aussagen hinterfragen. Wenn zum Beispiel ein Kind zuhause erzählt: ‚Unser Reitlehrer riecht immer so unangenehm aus dem Mund‘, müssen sich Mutter und Vater darüber Gedanken machen, wieso dieser Mensch dem eigenen Kind so nah kommt, dass eben dieses Kind eine solche Aussage trifft. Und dem sollte immer auf den Grund gegangen werden."